Begegnungen mit dem Bruder

Ich beginne mehr und mehr mein eigenes Leben zu führen, bin auf dem Weg erwachsen zu werden, habe die Kinder- und Jugendjahre weitgehend hinter mir gelassen - so wie du auch.

- wir sehen uns nicht mehr oft.
Doch manchmal, wenn ich aus dem Fenster schaue,
dann tauchst du vor meinem inneren Auge auf.
Meine Gedanken tragen mich in unsere Kinderzeit zurück.
Ich kann noch dein Lachen hören und spüre die Freude, die wir damals miteinander geteilt haben.
Auch Trauer und Erinnerung an Kämpfe schleichen sich ein.
Mit naiver Leichtigkeit und dem festen Glauben und Wissen unserer Verbundenheit begegneten wir der Welt.
Glückliche Momente zweier vereinter Geschwister -
Wir wurden älter und unsere Gedankenwelten, die sich bis dahin noch größtenteils geschnitten haben, begannen auseinander zu triften.
Nicht, dass du mich verlassen hättest, nein -
aber geprägt durch Erfahrungen und nicht zuletzt die Tatsache, dass du ein Junge warst, kamen unsere unterschiedlichen Interessen und Gefühle zum Vorschein.
Die Zeit, die wir miteinander verbrachten, wurde seltener und Streitereien traten öfter auf, basierend auf Intoleranz, Un- und Missverständnissen.
Ich konnte dich immer weniger begreifen und dir wird es ähnlich ergangen sein.
So lebten wir Jahr um Jahr.
Dur warst mein Bruder - im Grunde ein Fremder.
Und dann eines Tages, als du neben mir standest und ich dich von der Seite anschaute, wurde mir bewusst dass du nicht mehr mein kleiner Bruder warst.
Du wurdest erwachsen.
Ich begann dich mit anderen Augen zu sehen, anders zu respektieren.
Wir nährten uns wieder einander an.
Und jeder Schritt war eine kleine Begegnung mit dir. Eine neue Erfahrung.
Wir konnten miteinander Lachen, wir begannen den anderen auf eine geschwisterliche Art zu brauchen, die eben nur Geschwister fähig sind einander zu geben.
Weißt du was ich im nachhinein festgestellt habe?
Damals, an diesem Schnittpunkt, an dem ich das Gefühl und Bedürfnis hatte dich neu kennen zulernen, dir zu begegnen?
Die Freundschaft und Verbundenheit, die uns damals geeint hatte, war niemals erloschen.
Wir hatten sie nur versteckt, verborgen, konnten sie einander nicht ausdrücken.
All die Zeit in der ich dachte, ich kenne dich nicht mehr, hielt uns dieses Band zusammen.
Ein Bund fürs Leben, den wir in Kindertagen geschmiedet haben.
Kameradschaft, Vertrautheit, Beisammensein, Verständnis und Verbundenheit.
Vielleicht sind Worte nicht nötig, aber jede neue Begegnung mit dir, ist wie ein kleiner weiterer Schritt eines Weges, den wir hoffentlich ein
Leben lang gehen.